ERDBEERFELDER FÜR IMMER
A real funny evening with singing Germans
12.9.2004    Schauspielhaus, Köln

Im deutschen Musikarchiv werden deutschsprachige Musiktitel katalogisiert, archiviert und verwaltet. Sechs Angestellten suchen in vorgegebener Reihenfolge Karteikarten aus den Kästen und legen sie im synchronen Arbeitstempo ab, während ein Klavierspieler dazu die immer gleichen Melodien spielt. Alles ist farblos, eintönig und gleichförmig. Ein gestrenger Professor wacht über die Arbeit und läßt kein Ausbrechen aus den vorgeschriebenen Bahnen zu. Aber keiner der Angestellten sieht aus, als würde er überhaupt ausbrechen wollen. Im Takt der etüdenhaften Klaviermusik verläuft der Tag und ist genauso rechtwinklig wie die Anordnung der Schreibtische und Karteikästen.

Hin und wieder singen die unglücklich wirkenden Angestellten mehrstimmig, meist in moll verfasste kurze Refrainzeilen deutschen Liedgutes, die traurig und temperamentlos klingen. “Schön ist es auf der Welt zu sein”, oder auch “Und der Mensch bleibt Mensch”. Die Handlungen beginnen immer wieder von vorne und werden nur durch starr organisierte Pausen oder einen in strenger Schrittfolge durchgeplanten Tanz mit klappernden Aktenordnern unterbrochen.


Es ist ernst und langweilig auf der Bühne. Und gerade diese Eintönigkeit und die sich scheinbar endlos dahinziehende Zeit fasziniert das Publikum, das ganz aufmerksam zusieht, fast unhörbar still sitzt und vergnügt auflacht, wenn eine schon bekannte Wiederholung beginnt. Langsame Synchronität hat ihren Reiz, besonders, wenn sie von langen, ernsten Blicken begleitet wird.

Doch dann verlässt der Professor den Raum und die festen Strukturen beginnen zu bröckeln. Schweigend und fast vorwurfsvoll beobachten die biederen Kollegen, wie eine der Angestellten plötzlich die vorgeschriebene Arbeit verweigert, aggressives Verhalten zeigt und dann aus der deutschen Musikwelt ausbricht und laut nach “let’s have a party tonight”! verlangt.



Am Ende ihres Ausbruchs fällt sie, überwältigt von den Emotionen, ohnmächtig auf den Boden. Ihre Kollegen sagen im Chor ein erstauntes, aber zurückhaltendes: “Ups”, der Klavierspieler setzt mit der üblichen Melodie ein, sie wenden sich wieder ihren Karteikästen zu und arbeiten wie gewohnt weiter.


Aber die unerwartete Unregelmäßigkeit im Verhalten, das plötzliche Erleben von Individualität und Lebendigkeit haben an der Disziplin gekratzt. Nach und nach platzen bei allen Angestellten die innerlich angestauten Gefühle los und suchen sich heftig ihren Weg. Sind die anderen Kollegen zunächst noch geschockt, machen sie im Verlauf der Zeit immer hemmungsloser und wilder mit. Ebenso wie die Ordnung in ihrem Verhalten verloren geht, zerstören sie dabei das penibel geordnete deutsche Musikarchiv und werfen Bücher aus den Regalen und Karteikästen auf den Boden. Wunderbar dabei der Kontrast zwischen ihrer piefigen Bürokleidung, den teilweise unbeholfen verklemmten Bewegungen und den souligen Stimmen, die plötzlich Rock’n Roll losröhren oder Punk brüllen, während der Klavierspieler alles perfekt begleitet. Das deutsche Musikarchiv ist nicht wiederzuerkennen.




Aus Verstecken hinter den Aktenordner kommen bis dahin verborgen gebliebene Requisiten zum Vorschein, alle Angestellten hatten heimliche Wünsche, Aggressionen und Gefühle, die nun gemeinsam ausgelebt werden. Über Alkohol und Zigaretten geht es bis zu harten Drogen, dem völligen Ausflippen und dem ernüchterten Erwachen. Sogar nackte Haut und die Liebe kommt ins Spiel, und ein Wiedereinfügen in die starren Regeln des Archives scheint nicht mehr möglich zu sein.




Am Schluß dann ein unerwartetes Ende. Die plötzliche Freiheit und der Rock’n Roll überfordern die biederen Angestellten, die Situation eskaliert und der Ausbruch endet traurig, geschockt und wie versteinert. Das Schlußlied gibt bei aller Ernüchterung die Empfehlung für’s Leben, freundlich und mit klassisch ausgebildeter Stimme vom Professor gesungen: “If you want to be free, be free” aus Harold and Maud.


Standing Ovations vom begeisterten Publikum, zwei heftig erklatschte Zugaben, lautes Mitgesinge bei “All you need is love” und viel Gejubel. Warum das Stück “Erdbeerfelder für immer” hieß, und nicht “Geboren um wild zu sein” oder “Alles was du brauchst ist Liebe”, hat sich mir nicht erschlossen. Der Rest war klasse! Tolle Stimmen, spannungsvolle Inszenierung, überzeugender Klavierspieler (Gruß an Matthias Keul), Liebe, Freude, Tragik, Volkslied und Rock’n Roll.

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